Frauen im Jugendstil-Sanatorium Dr. Barner 1900-1914 und der Untergang der Wilke-Werke

Christina/ August 15, 2023/ Alltagsgeschichten, Kultur

Das nasskalte Wetter in diesem Sommer treibt uns in die Innenräume. Warum nicht das Beste daraus machen? Wir nutzen die Umstände, um unser regionales Geschichtswissen zu erweitern. Im Rahmen der Ausstellung „Göttinnen des Jugendstils“ bietet das (Kloster-)Museum Hinter Aegidien einen Vortrag zu „Frauen im Jugendstil-Sanatorium“ Dr. Barner 1900-1914. Das klingt interessant. Gleich am Tag darauf verschlägt es uns ins KufA Haus, wo das Forum Industriekultur ein Referat über die „Wilke-Werke im Umbruch 1856-1978“ auf dem Programm hat. Vortrag von Johannes Barner. Anhand von Archivalien und Fotos thematisiert der Vortrag die Stellung der Frau in der frühen Sanatoriumsgeschichte.

Großer Andrang bei der Dr. Barner Story
Als wir am Dienstagabend völlig unbedarft am Museum Hinter Aegidien eintreffen, sind wir sehr überrascht. Der geplante Vortrag scheint großen Anklang zu finden. Es wird tatsächlich immer voller. Die bereitgestellten Sitzgelegenheiten reichen bei Weitem nicht aus. Eine Angestellte muss immer wieder neue Stühle bringen und nach Plätzen Ausschau halten, wo sie diese noch platzieren kann. Donnerwetter, das Vortragsthema stößt auf sehr großes Interesse.

Pünktlich um 19 Uhr geht es los. Nach ein paar einführenden Worten einer Museumsmitarbeiterin beginnt Johannes Barner, seines Zeichens Urenkel des Sanatoriumgründers. Mit den Worten: „Nicht viel ist bekannt. Einiges ist Mutmaßung“ nimmt Barner den Faden auf.

Friedrich Barner und seine Frau kommen 1900 nach Braunlage. Barner ist Landarzt aus Hornburg. Seine Frau, Antoinette Wiegand ihr Name, ist Sängerin aus Braunschweig. Zusammen erwerben die beiden in Goslar das Haus Sonnenblick und die Villa am Wald, zwei typische Holzvillen im Harz. Als Barner im Dezember 1900 das Sanatorium eröffnet hat es 30 Zimmer. Einen Aufenthalt in dem Etablissement kann sich damals nur das reiche Bürgertum leiten. Dieses reist mit der Bahn an. Seit 1899 gibt es in dem Harzort einen Bahnhof. Von dort wird man mit einer Kutsche abgeholt und in die Klinik gebracht.

Frida von Uslar-Gleichen plaudert aus dem Nähkästchen
Zu der Zeit ist das Konzept der Psychotherapie gänzlich neu, besonders die Behandlung mit Hypnose. Es ist in den 1880er Jahren entstanden. Vornehmlich Frauen suchen die Heilstätte auf. Johann Barner beziffert das Verhältnis von Männern zu Frauen auf 1:3. Während man sich tagsüber in Liegen oder Bädern aufhielt, ging es beim Abendprogramm recht vergnüglich zu.

Frida von Uslar-Gleichen, eine der bekannten Patientinnen, hat ihre Erlebnisse in einem Briefwechsel mit ihrem Geliebten, Ernst Haeckel, festgehalten. Aus diesen Aufzeichnungen liest Barner an diesem Abend recht ausführlich vor. Der Text gewährt nicht nur einen Eindruck in das damalige Sanatoriumsleben. Er ist auch ein herrlich unterhaltsamer und lebhaft formulierter Schlagabtausch.

Zunächst beklagt sich Uslar-Gleichen darüber, dass sie tagsüber viel liegen müsse und zudem von einfachem Volk umgeben sei. Bestimmte Lebensmittel, wie z.B. Suppe oder Schwarzbrot seien ihr verboten. Dagegen konsumiere sie tassenweise süße Sahne, viel Butter und Pflaumenkompott. 38 Mark koste sie der Aufenthalt in der Woche. Darüber hinaus bejammert sie die niedrigen Temperaturen vor Ort. Während es in Göttingen an die 30 Grad gehabt hätte, muss sie in Braunlage mit 5-7 Grad vorliebnehmen.

Die Zeiten ändern sich: Frauen in Führungspositionen
Mit der Zeit und dem verstärkten Zulauf wird das Sanatorium von 30 auf 80 Zimmer erweitert. Der Architekt Albin Müller wird mit den Arbeiten beauftragt. An dem Ausbau arbeitet das Ehepaar Barner zusammen. Während sich Friedrich um das Exterieur kümmert, ist seine Frau Antoinette für die Innenausstattung zuständig. Merkwürdig finde ich in diesem Zusammenhang allerdings, dass diese Arbeitsteilung weder auf den Internetseiten des Sanatoriums noch auf dem Eintrag bei Wikipedia Erwähnung findet.

Zum Schluss seines Vortrags zeigt Barner Bilder der verschiedenen Räume. Das sind z.B. das Damen-, Musik-, Herren- und Raucherzimmer. Besonders dem Esszimmer, dem blauen Saal, kam eine entscheidende Bedeutung zu. „Das gemeinsame Essen war eine wichtige Sache“, erklärt Barner, „um sich bekannt zu machen.“

Ein kurzer Abriss erfolgt noch zum Thema Mitarbeiter:innen. Gestern wie heute waren dies oftmals Frauen, besonders im Service. Der große Unterschied zur damaligen Zeit liegt aber darin, dass Frauen heutzutage auch Führungspositionen besetzen.

Eine Braunschweiger Erfolgsstory
Bereits am darauffolgenden Tag steht eine weitere Geschichtsstunde auf dem Programm. Diesmal geht es um die „Wilke-Werke im Umbruch, 1856-1978“. Vortragender ist diesmal Horst Splett, seines Zeichens Mitglied im Forum Industriekultur. Ich bin immer wieder erstaunt, welche interessanten und bedeutenden Unternehmen es in Braunschweig gegeben hat.

In diesem Vortrag geht es um nichts Geringeres als die Geschichte des Schlossermeisters August Wilke, der 1856 eine kleine Schlosserei in Braunschweig eröffnete. Aus der Dampfkessel- und Gasometerfabrik entwickelte Wilke im Laufe der Jahre einen international erfolgreichen Wirtschaftskonzern, der zwei Weltkriege überstand, jedoch 1978 in Konkurs ging.

Das Portfolio der Wilke-Werke wuchs mit der Bedeutung des Unternehmens. Von Blecharbeiten über Glasbehälter und Dampfkesseln wurde ebenso der Brückenbau angeboten. Die Räume des Betriebs lagen in der Frankfurter Straße, genau an der Stelle, wo heute der Baumarkt Hornbach steht.

Mitarbeiterfürsorge zahlt sich aus
Sowohl den Aufstieg als auch den Erfolg der Wilke-Werke führt Splett u.a. auf die gut ausgebildete Arbeiterschaft zurück. Seitens der Geschäftsführung wurde darauf geachtet, dass die Mitarbeiter nicht nur handwerklich, sondern auch physisch fit blieben. Neben einem Sportangebot wurden freiwillige Sozialleistungen gezahlt und Werkswohnungen gestellt. Dieses Investment in die Beschäftigten scheint sich ausgezahlt zu haben.

25 Jahre nach der Gründung geht die Dampfkessel- und Gasometerfabrik an die Börse. Seit dem 14.6.1881 ist sie eine Aktiengesellschaft; ab Juli 1936 firmiert sie unter dem Namen Wilke-Werke AG. 1943 wies das Unternehmen mit 1.760 Mitarbeitern die höchste Beschäftigungszahl in seiner Geschichte aus.
1956 konnte die AG ihr 100-jähriges Jubiläum feiern. Man hatte auch den Zweiten Weltkrieg überstanden und war wieder international tätig. Die Blützeit endete allerdings zehn Jahre später als es mit dem Konzern langsam bergab ging. 1978 schließlich zehren die Verluste die gesamten Rücklagen auf. Am 8.12 des gleichen Jahres wird das Konkursverfahren eröffnet; die letzten 375 Mitarbeiter werden entlassen. Leider kann Splett nichts Genaues zu den Faktoren sagen, die den Untergang auslösten. Eigentlich sollte Splett an dem Tag auch von einem „Insider“, Jürgen Wiener sein Name, unterstützt werden. Dieser erkrankte jedoch leider kurzfristig.

Der Untergang der Wilke-Werke
Am 31.01.1986 wurden die Wilke-Werke von der Börse genommen. Das Konkursverfahren aber konnte erst zum 01.12.2002 abgeschlossen werden. Da begann auch der endgültige Abriss des Werksgeländes in der Frankfurter Straße. In der Zwischenzeit hatten Graffitti-Künstler von den Gebäuden Besitz genommen. An gleicher Stelle entstand ein neues Handelszentrum mit Baumarkt, Drogerie und Supermarkt.

Nachtrag: Auf Wikipedia ist nachzulesen, dass der internationale Konkurrenzdruck wohl Auslöser des Niedergangs gewesen sei. Dieser habe zu einer schlechteren Ertragslage geführt. Im August 1975 sei es zu Zahlungsschwierigkeiten gekommen. Im September desselben Jahres gingen ca. 500 Beschäftigte der Wilke-Werke auf die Straße, um für den Erhalt der Werke zu demonstrieren. Eine Rettung konnte aber auch über eine kurzfristig zur Verfügung gestellte Landesbürgschaft nicht erreicht werden. Lachender Dritte in der Geschichte sind mal wieder die Banken: Das Betriebsgelände wurde schließlich von einem Braunschweiger Investor und drei Banken gekauft.

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