Warum es sich lohnt, mit dem Denken anzufangen

Christina/ Oktober 30, 2015/ Philosophisches

Früher waren sie Pflichtprogramm, heute schalte ich sie immer seltener an: Nachrichtensendungen im Fernsehen. Warum? Medienmüdigkeit, Nachrichtenüberflutung, Flucht vor der Realität? Zweifel daran, ob das, was mir jeden Tag für 15, 20 oder auch 30 Minuten vorgesetzt wird, der objektiven Wahrheit entspricht, wenn diese überhaupt existiert? Irgendwie habe ich tagsüber doch bereits in diversen Newslettern und Nachrichtenseiten online eh schon alles gelesen. Ich will mich auch nicht mehr täglich damit auseinandersetzen – oder besser gesagt, es ja einfach nur konsumieren -, welche europäische Grenze nun gerade wieder geschlossen wurde, welcher Politiker die Flüchtlingskrise für seine Positionierung in nächsten Wahlkampf missbraucht oder wo mal wieder Brandsätze geflogen sind. Obwohl, halt, stopp! Die fortschreitenden Ressentiments gegenüber Flüchtlingen beschäftigen mich schon. Nicht so sehr nachrichtentechnisch. Nein, es ist eher das „Warum“? Warum gibt es Menschen, die die Flüchtlinge bereits hassen, obwohl sie noch gar nicht in Deutschland angekommen sind. Die also maximal eine Vorstellung davon entwickelt haben können, mit wem sie eventuell irgendwann mal etwas zu tun haben könnten? Und jetzt mal Hand auf’s Herz: Wie viele von uns waren schon in direktem Kontakt mit Flüchtlingen oder haben mit ihnen gesprochen? Ich frage mich, ob es sich bei der Hetze gegenüber den Wirtschafts- oder Kriegsflüchtlingen nicht um eine klassische Projektion der eigenen Ängste und Unzulänglichkeiten auf die „Fremden“ geht. Also einen Abwehrmechanismus, den die Wikipedia wie folgt beschreibt: „Der Begriff Projektion umfasst das Übertragen und Verlagern eines innerpsychischen Konfliktes durch die Abbildung eigener Emotionen, Affekte, Wünsche und Impulse, die im Widerspruch zu eigenen und/oder gesellschaftlichen Normen stehen können. Eine solche Projektion richtet sich auf andere Personen, Menschengruppen, Lebewesen oder Objekte der Außenwelt“.

Aus rein wirtschaftlicher Perspektive ist es vielleicht sogar verwunderlich, dass nicht noch mehr Menschen unterwegs sind. Unterwegs in die Länder, die als vermeintlich reich oder Freedom House statistics gelten. Hier ein einfacher Lösungsvorschlag: Vielleicht sollten einfach die 1 % der Weltbevölkerung, die so viel besitzen, wie der Rest, einen eigenen Start gründen und dort können wir dann all die Flüchtlinge hinschicken? Und, ist nicht auch die Flucht in ein anderes Land allein aus wirtschaftlicher Not verständlich. Wir einem nicht überall suggerieren, man wäre ja blöd, wenn man nicht so billig wie möglich konsumiere und so reich wie möglich in seinem (Berufs-)Leben werde? Allein der Blick darauf, was inner- und außerhalb Europas für Lebensmittel durchschnittlich ausgegeben werden muss, lässt ein paar Fragen aufkommen. Während ein Deutscher durchschnittlich 15 % seines Ausgaben für Lebensmittel aufwenden muss, sind es in Ägypten 40 %. D.h. wenn der Deutsche satt ist, dann hat er immer noch 85% seines Gehalts für alle weiteren Ausgaben zur Verfügung, während ein Ägypter nur noch mit 60 % seines Verdienstes haushalten kann. Keine Ahnung, wie die Deutschen reagieren würden, wenn sie plötzlich mindestens das Doppelte ihrer bisherigen Ausgaben im Monat für Lebensmittel berappen müssten, aber ich könnte mir vorstellen, dass man „not amused“ wäre.

So und dann zum Thema Demokratie. Nehmen wir uns so eben genanntes Beispiel. Die Lebensmittelpreise steigen also in Deutschland gut um das Doppelte. Wie ruhig würde es dann hier wohl auf den Straßen bleiben und wie demokratisch würde darüber diskutiert werden und wie würde die Regierung auf den Unmut der Bevölkerung reagieren? Die Finanzkrise in 2007/2008 hat zumindest in den USA gezeigt, dass das Recht auf freie Meinungsäußerung und auf Protestkundgebungen doch wohl irgendwann Occupy Wall Street. Und auch in Bankproteste in Deutschland war man über den „unkapitalistischen“ Unmut manches protestierenden Bürgers nicht besonders erbaut. Aber spätestens jetzt packt den aufgeweckten und reflektierten Leser angesichts dieser Zahlen, wenn nicht die Wut, so das Unverständnis: 175 Mrd. Dollar hatten die neun größten US-Banken im Jahr 2009 als Staatshilfe erhalten – gleichzeitig zahlten sie in diesem Jahr aber auch 32,6 Mrd. Dollar (23,7 Mrd. Euro) an Boni aus. In Europa waren die Summen zwar nicht ganz so drastisch, aber auch hier wurden mitten in der Krise, während Steuermilliarden in die Bankenstützung flossen und abseits der Finanzwirtschaft Tausende ihre Jobs verloren, Millionenzahlungen an Bankmanager ausbezahlt. Wer liegt denn dem Bürger hier mehr auf der Tasche? Der Banker, der gestrauchelte Manager mit seinem Abfindungsköfferchen oder der mittellose Flüchtling, der vielleicht irgendwann sogar mal in die Rentenkasse einzahlt? Die Vermutung liegt nahe, dass so mancher Manager mittlerweile mehr Arbeitsplätze und Zukunftsträume verbrannt hat, als uns Flüchtlinge jemals streitig machen könnten. Aber vielleicht machen sich Banker, Manager und Co. dadurch sympathischer, dass sie in abgeschotteten Luxusvillen leben und nicht in Massenunterkünften, sodass sich der Kontakt mit den Normalbürger in (medialen) Grenzen hält?

Dann ein dritter Punkt, der ebenfalls eine Schnittmenge mit dem Thema „Flüchtlinge“ aufweist: Die Konzentration der Medienberichterstattung auf die Despotien dieser Welt: Hier gibt es z.B. „Neues“ vom WZB-Forschungsprofessor John Keane . Der Artikel erschien in der „Deutschen Zeitschrift für europäischen Denken“. Nomen est omen? Heißt das im Umkehrschluss (Honi soit qui mal y pense), dass in der westlichen Hemisphäre oder zumindest in Europa alles „sauber“ ist, während der z.T. ex-kommunistische Rest der Welt in Despotie versinkt? Hoppla, bestimmt ein Fall für die Weltpolizei, die USA. Ach ja, da sind ja im nächsten Jahr Wahlen mit so lupenreinen Demokraten, äh Kandidaten wie z.B. Donald Trump an. Schöne Aussichten. Wie geht doch gleich das Sprichwort: wer im Glashaus sitzt, sollte nicht mit Steinen werfen? Oder glaubt jemand ernsthaft, dass Einwanderer in den USA oder in Europa gerechte Bezahlung oder gerechte Behandlung werden. Wieder eine klassische Projektion (und damit will ich keinesfalls russische, chinesische oder auch saudi-arabische Staatsmänner in Schutz nehmen). Die Schlimmen, das sind immer die anderen. An dieser Stelle sollte man aber nicht vergessen, dass nicht zuletzt auch Europa mit einigen Despoten gute Geschäfte gemacht hat, wenn es darum ging, Flüchtlinge buchstäblich „in die Wüste“ zu schicken.

Darum lohnt es sich also, mit dem Denken anzufangen.

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