Wenn die Angst greifbar wird. Ein Kommentar

Christina/ November 17, 2015/ Philosophisches

Der vergangene Samstag war anders als andere Samstage in diesem Jahr zuvor. Dabei hatte er begonnen, wie immer. Ich war zum Schwimmen gegangen, ich hatte eingekauft und saß nun bei einer Tasse Kaffee vor meinem Computer. Nebenbei hörte ich, auch aus Gewohnheit, Radio. Wie gesagt, alles war wie immer. Bis ich die Nachrichten im Radio hörte. Bis ich von den Anschlägen in Paris Freitagnacht hörte. Bis ich von den Toten hörte und bis, ja, bis ich merkte, dass dieser Samstag ganz anders werden würde, als alle Samstage in diesem Jahr zuvor.

Zunächst versuchte ich mir über diverse Sondersendungen einen Überblick über das zu verschaffen, was überhaupt in Paris passiert war. Dabei merkte ich, dass eine reine Aufnahme der unfassbaren Bilder oder die bloße Rezeption der Informationen gar nicht möglich war. Ich kenne niemanden im Paris und bin insofern nicht persönlich betroffen. Und trotzdem bin ich es doch. Warum frage ich mich? Weil der Angriff in einer europäischen Stadt stattgefunden hat und nicht irgendwo in Afrika oder im Nahen Osten? Ja, genau. Und warum? Weil der Terror damit praktisch auch an meine Haustür geklopft hat. Weil dieses Massaker plötzlich kein weit entferntes Säbelrasseln mehr ist, sondern eine reale Bedrohung.

Als ich am Samstagnachmittag im Kino sitze, ertappe ich mich dabei, wie ich zur Eingangstür schaue und überlege, welche Chancen ich hätte, wenn jetzt eben solche fanatischen Kämpfer den Saal stürmen und um sich schießen würden. Vermutlich keine. Und genau das ist es, was mir Angst macht. Es gibt keine „konkreten“ Gegner, wie wir sie zum Beispiel im „Kalten Krieg“ in zahlreichen Kino-und Fernsehfilmen dämonisieren konnten. Nein, das Gesicht dieses Terrors ist die unfassbare Kaltblütigkeit (auch wenn das Motiv hochemotional ist) mit der vorgegangen wird: Menschen, verblendet von Hass, infiltriert von unversöhnlichen tödlichen Botschaften stürmen unmaskiert und mit aller Seelenruhe Konzertsäle, Restaurants, Bars und sogar offene Straßen, um jeden zu töten, der vor ihr Zielrohr kommt oder im Umkreis der Bombenexplosion ihres Sprenggürtels steht.

Und noch etwas macht mir Angst. Das Gerede von Krieg, von Härte und weiteren Drohungen seitens französischer hochrangiger Politiker: „Wir werden schonungslos sein“, tönt es aus dem Elysee Palast. Als Folge schickte der französische Präsident in der Nacht von Sonntag auf Montag seine Luftwaffe abermals nach Syrien, um Stellungen des Islamischen Staates zu bombardieren. Als der französische Innenminister gestern im Fernsehen von Razzien spricht und ankündigt, dass weitere geplant sein, frage ich mich, ob ein Selbstmordattentäter, der so vorgeht, wie ich es oben beschrieben habe, ernsthaft vor Razzien Angst hat? Und wer wird denn bei den Bombenangriffen in Syrien wirklich getötet? Sind das tatsächlich nur IS-Kämpfer (und ist das so gezielt überhaupt möglich?) und nicht auch Zivilisten? Und befeuern wir mit diesen Bombenangriffen in Irak, in Afghanistan, in Syrien und wo auch immer, nicht immer weiter den Zulauf zum IS? Produzieren wir damit nicht immer mehr Menschen, die eben, weil sie nichts mehr zu verlieren haben, sich dem Terror anschließen, um es endlich denen heimzuzahlen, die ihnen in ihren Augen alles genommen haben?

Im Morning Briefing des Handelsblatts vom 16.11.2015 standen gestern ein paar sehr wichtige Zeilen, die jeder Politiker, Staatsmann aber auch Bürger einmal überdenken sollte, bevor er von „Kriegszuständen“ spricht: „Aber für das feindliche Klima zwischen den Kulturkreisen trägt der Westen eine Mitschuld.“ Erscheint es im Lichte dieser Aussage nicht geradezu kontraproduktiv, gerade jetzt syrische Flüchtlinge auszusperren und sie der Hoffnungslosigkeit zu überlassen? Sollten wir nicht gerade jetzt, Verbündete suchen und Freunde finden als Gefahr zu laufen noch weitere Selbstmordattentäter zu produzieren, die nichts als ihr Leben zu verlieren haben? Und wollen wir wirklich riskieren, dass aus Syrien ein IS-Staat wird und wir uns in Europa nur noch vermeintlich sicher fühlen, wenn ständig Polizisten mit Kalaschnikows durch die Straßen patrouillieren und Geheimdienste alles, aber wirklich alles überwachen, was wir tun, sagen und denken, weil plötzlich jeder ein Verdächtiger ist? Und darüber hinaus: Was hat uns die Geheimdienstüberwachung denn bisher gebracht? Hat es nicht trotzdem sowohl einen 11. September in den USA gegeben als auch die Anschläge in Madrid 2004 oder in London 2005?

Mir ist gestern das Lied „If the Russians love their children too“ von dem Sänger Sting in den Sinn gekommen. Geschrieben eben aus der Angst des Kalten Krieges heraus, dass die Russen die Atombombe zünden könnten. Aber, wer hat diese Atombombe denn als alles vernichtende Waffen erfunden? Das waren weder Russen, noch Araber, noch Asiaten. Nein, das war ein Amerikaner deutschen Ursprungs. Und nochmals weiter gedacht in Richtung Mitschuld des Westens. In dem bereits zitierten Morning Briefing des Handelsblatts schreibt Gabor Steingart weiter: „Von den 1,3 Millionen Menschenleben, die das Kriegsgeschehen von Afghanistan bis Syrien mittlerweile gekostet hat, bringt es allein der unter falschen Prämissen und damit völkerrechtswidrig geführte Irak-Feldzug auf 800.000 Tote. Die Mehrzahl der Opfer waren friedliebende Muslime, keine Terroristen. Saddam Hussein war ein Diktator, aber am Anschlag auf das World Trade Center war er nachweislich nicht beteiligt.“ Die beiden Weltkriege, so ließe sich weiter überlegen, gehen auf das Konto Europas. Die Waffen mit denen uns Kämpfer aus dem Nahen Osten bedrohen, dürften aus amerikanischen und deutschen Produktionsstätten stammen. Ist es wirklich das, was wir wollen: Frieden und Freiheit erkauft mit einem weiteren Krieg und den Menschenleben ziviler Opfer?

Wir brauchen keinen Krieg und wir brauchen auch keine Demagogen. Und vor allen Dingen brauchen wir keine Politiker, die an ihre eigene Karriere denken und sich dafür scheuen, die Wahrheit zu sagen. Sicherheit ergibt sich nicht aus Gewalt, sondern aus Kommunikation. Wir sollten damit aufhören, die Symptome zu bekämpfen und über die Ursachen sprechen – offen und ehrlich. Ja, der vergangene Samstag war anders als andere Samstage in diesem Jahr zuvor. Und ich hoffe inständig, dass es so einen Samstag nie wieder geben wird.

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