Andreas Feininger: Alte Neue Welt

Christina/ Juli 23, 2022/ Kultur

Andreas Feininger ist ein Pionier des modernen Bildjournalismus. So steht es in der Begleitbroschüre zur Ausstellung Alte Neue Welt. In der sonntäglichen Führung wird der Künstler sogar als „Erfinder der Skyline-Fotografie“ bezeichnet. Und Sohn des Malers Lyonel Feininger ist er auch. Dem Fotografen ist derzeit im Städtischen Museum eine Ausstellung gewidmet. Sie umfasst 260 Werke und ist in vier Rubriken eingeteilt, die sich „Großstadt“, „Lebenslinien“, „Hamburg“ und „Portraits“ nennen.

Alte Neue Welt ist noch bis zum 14. August 2022 zu sehen. Wir besuchen sie an diesem Sonntag. Ich bin überrascht, dass sich an diesem schönen Tag und dazu noch in den Sommerferien, so viele Interessierte zusammenfinden. In einer guten Stunde werden wir durch die zahlreichen Bilder Feiningers und seine Lebensgeschichte geführt.
Feininger wird 1906 in Paris geboren. Er wächst in Deutschland auf. Immigriert zu Beginn des zweiten Weltkriegs jedoch nach Amerika, dem Heimatland seines Vaters. Fortan widmet er sich Großstadtmotiven, vornehmlich in New York. Die Skyline von Manhattan und die Brooklyn Bridge zählen zu seinen Lieblingsmotiven. Dieses Thema lichtet er in verschiedenen Konstellationen ab. Mal im Regen, mal im Schneesturm. Mal mit Wolken, mal im Nebel. Wirkung, Struktur und Form sind ihm besonders wichtig. So Feiningers Selbstoffenbarung. Und das wird in seinen Bildern deutlich.

Fotografie in den 1940er Jahren
Was fällt mir an dieser Schau auf? Was lässt sich jenseits des Erwartbaren entdecken? Zwei Dinge regen mich hier zum Nachdenken an: Zum einen sind es Feiningers Aktfotografien. Zum anderen ist es das Hineinversetzen in den Fotografiestil der 40ger Jahre. Aus heutiger Sicht scheinen Feiningers Großstadtbilder auf den ersten Blick nichts Besonderes zu sein. Man verzeihe mir an dieser Stelle den vielleicht respektlos wirkenden Vergleich. Diesen nutze ich jedoch, für meine erste Erklärung. Das Aufkommen der Digitalfotografie hat zwischenzeitlich millionenfach Bilder der Stadt New York und ihren Wahrzeichen hervorgebracht. Über die künstlerische Qualität derselbigen lässt sich natürlich streiten. Fakt ist aber, dass es eine Bildüberflutung gibt, die durch Handyfotografie und deren Verbreitung über die sozialen Medien ein unüberschaubares Maß angenommen hat. Vielleicht sind wir einfach ein wenig abgestumpft.

Deshalb, so meine ich, kann es sinnvoll sein, Feiningers Bilder aus der damaligen Perspektive zu betrachten. Auch ist die technische Leistung der damaligen Fotoausrüstung zu bedenken. Auch spielt die Tatsache eine Rolle, dass Feininger seine Bilder in der eigenen Dunkelkammer entwickelte und Bildbearbeitungsprogramme wie Photoshop noch Zukunftsmusik waren. Feininger wird uns als Perfektionist beschrieben. Als jemand, der stundenlang auf den passenden Moment warten konnte. Und sicherlich, so denke ich, braucht es auch hier ein geübtes und geduldiges Betrachterauge, um diese Feinheiten zu erkennen.

Der Blinde und das Mädchen
Nun komme ich zum zweiten Teil meiner Beobachtungen. Eines von Feiningers Bilder trägt den Titel: Blind man on the 42nd street. Interessant ist das Setting, in dem der Blinde fotografiert wird. In einem Vergnügungsviertel. Neben ihm wird für „Girls“ also Mädchen geworben. Jetzt frage ich mich, ist das Zufall? Für mich ein starker Gegensatz: auf der einen Seite die Verlockungen der Großstadt. Auf der anderen Seite eine Person, die diesen Versuchungen widersteht. Denn, sie ist des Sehens nicht fähig.

In einem anderen Raum mit dem Titel „Lebenslinien“ werden Naturaufnahmen von Feininger gezeigt. Darunter sind Nahaufnahmen von Spinnennetzen, Pflanzen, Libellenflügeln und eben unbekleideten Frauen. „Solarized nude“ heißt eines dieser Bilder. Zu sehen ist eine stark überbelichtete Frauensilhouette. Als standing nude ist ein anderes bezeichnet.

Wir erinnern uns, Feininger geht es um „Wirkung, Struktur und Form“. Ein Ausdruck neuer Gestaltungsweisen in den 1920er bis 1960er Jahren. Ich kann nicht genau sagen warum, aber für mich passen die Bilder nicht so richtig zur den Tier- und Pflanzenaufnahmen. Vielleicht berührt es mich aber auch nur unangenehm, dass immer wieder Frauenkörper als Studienobjekte herhalten müssen.

Neue Gestaltungsmethoden in der Fotografie
Quote: „Die Tatsache, dass eine (im konventionellen Sinn) technisch fehlerhafte Fotografie gefühlsmäßig wirksamer sein kann als ein technisch fehlerloses Bild, wird auf jene schockierend wirken, die naiv genug sind, zu glauben, dass technische Perfektion den wahren Wert eines Fotos ausmacht.“

Feininger hat in seinen Fotografien bzw. in deren Entwicklung immer wieder neue Gestaltungstechniken eingesetzt. So zum Beispiel die Retikulation, das Fotogramm oder auch die Solarisation. Eine Retikulation ist eine gitter- bzw. netzförmige Musterbildung. Eine Retikulation wird im deutschen auch als Runzelkorn bezeichnet. Der Runzelkorn ist ein Fehler, der bei der Entwicklung von Filmen auftreten kann. Es entsteht meist durch zu große Temperaturunterschiede zwischen den einzelnen Bädern des Verarbeitungsprozesses. Hierbei entstehen in der Gelatineschicht viele haarfeine Risse.
Die Technik des Fotogramms hat Feininger zum Beispiel bei Libellenflügeln angewendet. Es ist eine bis in die 1830er Jahre zurückreichende Gestaltungsmethode. Der Effekt entsteht durch die partielle direkte Belichtung von lichtempfindlichen Materialien wie Film oder Fotopapier im Kontaktverfahren.

Die Solarisation ist eine Verfremdung des fotografischen Bildes durch starke Überbelichtung. Es ist die Bildumkehr im Bereich der Maximalschwärzung (Maximaldichte) einer Schicht, wie sie in dem oben genannten Bild zum Tragen kommt.

Alte Neue Welt
Leider schließt das Museum um 17 Uhr, so dass unsere zweite Runde durch die Ausstellung abbrechen müssen und meine Reflektionen hier enden. Die Ausstellung hat ihren Reiz. Allein dadurch, dass Feininger ausschließlich schwarz-weiß Fotografien macht. „Ein Künstler sollte“, so ein Ausspruch Feiningers, „nur das fotografieren, was seinen Neigungen entspricht.“ Dem ist nichts hinzufügen.

Oh doch, eine Frage bleibt noch ungeklärt: Was meint der Ausstellungstitel „Alte Neue Welt“? Ist sie dem Umzug Feiningers aus der „alten Welt“ in die „neue Welt“ gewidmet? Oder ist es der Kontrast zwischen den Aufnahmen aus Hamburg und New York? Im Vergleich fällt sicherlich auf, wie modern die Manhattan-Skyline mit ihren hochaufragenden Gebäuden bereits in den 1940er wirkte.

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