Charkiw: zwischen gestern und heute

Christina/ Juli 3, 2022/ Philosophisches

Wir stehen am Waisenhausdamm. Die Hausnummer 8-11 ist unser Ziel. In dem ehemaligen Blumengeschäft findet derzeit eine Ausstellung statt. Es geht um Charkiw, eine Stadt im Osten der Ukraine. Eine Stadt, deren Name und Geographie vor dem 24. Februar 2022 wohl nur Wenigen geläufig war. In den letzten Monaten jedoch hat es die zweitgrößte City der Ukraine zu zweifelhaftem Ruhm gebracht. Charkiw ist eine der Städte, die besonders von dem Beschuss der russischen Armee betroffen sind. Seit Ende Februar tobt sowohl im Nordosten als auch im Süden des Landes mit 40 Millionen Einwohnern etwas, das wohl kaum jemand für möglich gehalten hätte: ein Angriffskrieg mitten in Europa. Diese gleichwohl unfassbare als auch beängstigende Tragödie ist Gegenstand einer kleinen Ausstellung, die seit dem 23. Juni im Waisenhausdamm 8-11 zu sehen ist. Unter der Perspektive “Charkiw zwischen gestern und heute” werden Bilder des Meisterfotografen Volodymir Ogloblin und seiner Schülerin Elena Dolzhenko gegenübergestellt. Ogloblin’s Bilder zeigen das frühere, aufstrebende Charkiw. Dolzhenko dagegen hält das Grauen der sinnlosen Zerstörung durch die russische Armee fest.

Pain is so close to pleasure
Pain is so close to pleasure” hat Freddie Mercury einst mit Queen gesungen. Und genau diesen Gegensatz zeigen die sieben großformatigen Bilder der Ausstellung. Wie Hohn mutet es an, wenn man sich diese Reiseempfehlung für Charkiw anschaut und daneben die aktuellen Bilder im Fernsehen oder eben hier am Waisenhausdamm. Da, wo vor ein paar Monaten noch Hochzeiten stattfanden und Menschen glücklich waren, sitzt heute ein Feuerwehrmann verzweifelt und eine Zigarette rauchend in dem Trümmern seiner Stadt. Da, wo vielleicht noch vor einer Minute eine Fabrik stand, liegen jetzt Trümmer in alle Himmelsrichtungen verstreut. Was übrig bleibt sind Leid, Verlust, Ohnmacht und Hilflosigkeit.

Persönliche Führung durch die Ausstellung
Als wir noch vor dem Eingang der Ausstellung stehen werden wir angesprochen. Es ist keine geringere als die Tochter von Volodymir Ogloblin, die jetzt mit uns die Bilder betrachtet und von der Ukraine erzählt. Sie ist bereits seit 30 Jahren in Deutschland, lebt nun in Wolfsburg. Ihr Vater, so erzählt sie uns, wollte zunächst in Charkiw bleiben. Als sein Fotostudio jedoch einem Angriff der russischen Armee zum Opfer fällt, flüchtet er mit zwei Koffern zu seiner Tochter nach Deutschland. Bleiben will er aber nicht. Er will beim Wiederaufbau der Stadt dabei sein. Seine Schülerin Elena Dolzhenko ist derzeit in Charkiw und will dort auch bleiben. Sie führt Journalisten durch ihre Stadt. Mit der Kammera hält sie weiterhin tapfer das Geschehen fest.

Keine Bilder von Toten
Bei der Konzeption der Ausstellung bittet der Organisator darum, hier im öffentlichen Raum keine Bilder von Toten zu zeigen. Das ist auch nicht nötig. Die völlig grundlose Zerstörung, die die Bilder dokumentieren, ist unfassbar genug. Es sind die Kontraste, die die Bildgewalt ausmachen. “Die Bilder”, so lässt uns Ogloblin’s Tochter wissen, “werden durch ihre Farbgebung miteinander verbunden.” Mal ist es das unschuldige Weiß eines Hochzeitskleides, das sich in den Trümmern eines zerstörten Gebäudes wiederfindet. Dann wieder sind es bunte Luftballons, deren Farbspiel auf einem zerbombten und ausgebrannten Auto auftaucht.

Wohin mit dem ganzen Schutt?
Am Ende des Rundgangs fragen wir uns, wie es nach dem Krieg wohl weitergehen wird? Wird es die Ukraine tatsächlich in die EU schaffen? Wird sie demokratischer werden? Wird die Regierung es schaffen, die Korruption im Land zu bekämpfen? Wird es mehr soziale und wirtschaftliche Gerechtigkeit im Land geben? Der Wiederaufbau der zerstörten Städte, das ist jetzt schon klar, wird nicht nur teuer, er wird auch sehr viel Zeit in Anspruch nehmen. “Ich frage mich”, so lässt uns Ogloblin’s Tochter wissen, “wohin man alleine mit all dem Schutt und den Trümmern will”? Dankbar für die wertvollen Einblicke in das aktuelle Geschehen verlassen wir nachdenklich den Ausstellungsort.

Interkultureller Workshop an der TU Braunschweig
Auch wenn viele Passanten an diesem Samstag achtlos an der Ausstellung vorbeigehen, ist dieser Krieg in Europa wohl ein Vorfall, dem sich niemand so richtig entziehen kann. Direkt vor unserer Haustür tobt eine Auseinandersetzung, wie sie hier im Westen wohl kaum jemand für möglich gehalten hätte. Auch das ist neu: die Kampfhandlungen haben direkte Auswirkungen und Konsequenzen auf unser Leben. Waren sind knapp, Lebensmittel werden immer teurer, die Inflation schreitet voran, der Ausgang des Ganzen ist ungewiss. Hier erfolgt also eine zwangsweise Beschäftigung, die jeden einzelnen betrifft. Während andere Krisen in der Welt allenfalls mit einem Kopfschütteln wahrgenommen werden, ist dieser Konflikt etwas, was die Ukraine nach Deutschland bringt. Dieser Umstand findet u.a. Ausdruck in einem interkulturellen Workshop, den die TU Braunschweig an zwei Freitagen im Juli veranstaltet.

So bleiben zwei Dinge zu wünschen. Zum einen, dass dieser Krieg so schnell wie möglich endet. Zum anderen, dass das Interesse an unseren europäischen Nachbarn den Konflikt überdauert.

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