Sylt im November

Christina/ November 26, 2023/ Alltagsgeschichten

Sylt im November. Graue Wolken, rauhes Meer, viel Wind und Regen. So stelle ich mir den (Spät-)Herbst an der Nordsee vor. Aber, und das gehört auch zur Wahrheit, in dieser Jahreszeit strahlt die Insel eine Ruhe aus, die sich schnell auf mich überträgt. Also, für den Fall, dass die Bahn mich sicher und einigermaßen pürnktlich hinbringt – was immerhin auf dem Hinweg gelingt – erwartet mich eine entspannte Bildungswoche. Bei meinen bisherigen Kurzbesuchen auf Sylt habe ich das Eiland größtenteil mit den Rad “erfahren”. Diesmal bin ich zu Fuß unterwegs und ich muss sagen: Je langsamer ich mich auf der Insel bewege, desto mehr gibt es zu entdecken. Zu meiner Freude sind auch die Alltagsmenschen von Christel Lechner in Wennigstedt unterwegs. Diese uneitelen und so furchtbar normal wirkenden Betonfiguren durfte ich bereits in diesem Sommer in Braunschweig kennenlernen. Da freue ich mich sehr über ein Wiedersehen an der Nordsee. Und ja, Sylt hat neben ausgiebigen Strandspaziergängen noch mehr zu bieten. Leider macht mir das stürmische Wetter in der zweiten Hälfte meines Aufenthalts einen Strich durch die Rechnung – es ist eben November. Aber, das ist natürlich auch ein Grund, um nochmals zurückzukehren und den Rest der Insel wandernd zu entdecken.

Wenningstedt-Braderup
Jede Jahreszeit hat ihren eigenen Charme – so auch der Herbst. Ein Bildungsurlaub verschlägt mich auf die Insel Sylt, genauer gesagt nach Wenningstedt-Braderup. Hier schlage ich für eine Woche meine Zelte auf. Ich kann es kaum glauben, aber die Bahn bringt mich, trotz zweimal umsteigen, pünktlich nach Westerland. Von dort geht es mit dem Bus nach Wenningstedt, ein Katzensprung für 3,20 Euro. Dort angekommen sehe ich zu, dass ich mein Gepäck verstaue und gleich mal an den Strand gehe. Die Sonne wird bald untergehen und ich will die Nordsee nochmals bei Licht sehen, denn, heute scheint die Sonne. In gefühlten drei Minuten bin ich auf der Promenade von Wennigstedt-Braderup. Sofort erschnuppere ich das salzige Gewässer und ziehe die gute Luft tief in meine Lungen ein. Ja genau das ist es, das Nordsee-Feeling. Ein Gefühl der Freiheit durchströmt mich. Hier begegne ich auch den ersten Alltagsmenschen: einen Paar unter der Dusche auf dem Weg zum Wasser, einem Herren mit Fernglas und einem weiteren Paar, dass in den Dünen liegt. Ach und dann sind da noch die drei Grazien mit ihren Surfbrettern. Als ich an den Damen vorbeigehe komme ich zum Holzsteg, der mich direkt an den Strand und somit ans Wasser bringt.

Wellenkraft
Ich bin von der Kraft des Wassers und dem Wellenspiel fasziniert. Wie das Wasser langsam an den Strand rollt, sich in einer Welle im Sand ergießt und dann wieder langsam zurückzieht. Mich fesselt auch die Hinterlassenschaft dieses Wechselspiels. Neben vielen Muscheln in verschiedenen Farben und Formen sind es die Schaumkronen, die am Strand zurückbleiben. Die Glasbläschen scheinen noch zu atmen, wie aus einer überschäumenden Waschmaschine oder wird gleich die Kleine Meerjungfrau als Strandgut angespült? Ich bin schon gefangen von der Magie der Nordsee. Als ich fast Westerland erreicht habe ist es leider bereits so dunkel, dass ich umkehren muss. Außerdem findet das Abendessen um 18 Uhr statt. Aber keine Sorge, ich komme ja wieder.

Rotes Kliff Wanderung
Für den nächsten Tag habe ich bereits ein Ziel im Auge: Die “Rotes Kliff Wanderung” von Wenningstedt nach Kampen. Eine Klippenwanderung verspricht Abenteuer und genau das ist mein Ding. In der Mittagspause geht es los. Der Weg verläuft auf Holzplanken und in den Dünen. Der Clou ist der kontinuierliche Blick auf den Strand und das Meer. Die Wanderung hat neben dem atemberaubenden Ausblick, dem Laufen im weichen Sand noch ein Highlight zu bieten: Am Ende der Strecke lockt die “Uwe-Düne“, mit 52,5 Metern die höchste Erhebung auf Sylt. Der Aufstieg ist bei dem kräftigen Wind nicht ganz leicht, aber auch hier lockt der Blick von Kampen bis nach Westerland. Bei klarem Wetter und Sonnenschein lässt sich sicherlich noch viel mehr sehen. Leider geht meine Mittagspause langsam zu Ende, sodass ich den Abstecher in die “Innenstadt” von Kampen heute nicht mehr schaffe. Auf meinem Rückweg halte ich oberhalb von Onkel Johnny’s Strandwirtschaft an und fotografiere das Banner an der Wand des Gebäudes: Glaube, Liebe und Hoffnung steht dort auf Hochdeutsch und Ostfriesisch.

Ins mondäne Kampen
Am zweiten Tag nutze ich die Mittagspause für einen Strandspaziergang von Wenningstedt nach Westerland. Es ist Ebbe. Im Sand sind Siele entstanden, die langsam ihre Spuren durch den Sand ziehen und so anschwellen, dass sie nicht mehr überschritten werden können. Eine Weile halte ich mich in der Innenstadt von Westerland auf. Ich muss aber zugeben, dass der Hauptort der Insel mir nicht so gut gefällt. So wähle ich auch den Rückweg über den Strand und erreiche bei Sonnenuntergang Wenningstedt-Braderup. In der Mittagspause am dritten Tag peile ich das mondäne Kampen als Wanderziel an. Der Wind hat aufgefrischt, es wird stürmisch und möglicherweise wird das heute meine letzte Wanderung. Über den Dorfteich in Wenningstedt komme ich zunächst zur Friesenkapelle. Ich werfe einen Blick in das Andachtsgebäude und bin von dessen schlichter Schönheit überrascht. Die Decke mit den bemalten Holzkassetten gefällt mir sehr gut. Ich verbuche die Entdeckung dieses Kleinods als ein Ereignis, das mir bei einer rasanten Radtour vermutlich entgangen wäre. Gleich nebenan liegen das Sölring-Museum und das Steinzeitgrab Denghoog. Leider fehlt mir die Zeit für diese kulturelle Einheit, aber ich nehme beides in meine gedankliche To-Do-Liste auf.

Der Sylter Sagenwald
Als ich Kampen erreiche gehe ich weiter in Richtung Dorfmitte. Der Wind ist nun wirklich recht stark. Es zieht mich wieder Richtung Meer, weil der Ausblick so schön ist. Aber je näher ich der Nordsee komme, desto mehr stürmt es. Ich drehe schließlich um, da die Zeit auch wieder ein wenig drängt. Ich denke mir aber, dass ich vielleicht morgen nochmals wiederkomme. Auf dem Rückweg fällt mir ein bemalter Stein am Wegesrand auf. Ich gehe näher heran, um die Aufschrift lesen zu können. Ich stehe vor dem Sylter Sagenwald. Der kommt jetzt genau richtig, denn in dem Wald schützen die Bäume vor dem Wind. Und hier begegne ich u.a. einem Geisterschiff, den Puken und Ekke Nekkepenn. Alles Gestalten, die ich vorher noch nicht kannte. Auf der Wenningstedter Seite des Waldes komme ich beim Campingplatz heraus. Von dort geht es über den Dorfteich zurück zum Klarstrand.

Wenn der Sturm die Träume verweht
Am nächsten Tag versuche ich in der Mittagspause nochmals mein Glück und mache mich wieder Richtung Kampen auf. Der Wind ist mittlerweile wirklich heftig. Noch unangenehmer ist allerdings der Regen, der aufgrund der frischen Brise von der Seite peitscht und meine linke Flanke in Nullkommanix durchnässt. Ich kämpfe mich noch bis zur nächsten Haltestelle durch und entschließe mich, den Bus zurück nach Wenningstedt zu nehmen. Schade, aber so ist es eben. Über Nacht nimmt der Sturm noch zu, sodass es am letzten Tag des Bildungsurlaubs einfach nur schnell nach Hause gehen soll.

Abenteuer Zugfahrt
Während meine Hinreise völlig gechillt verlief, konnten meine Mitstreiter ein ganz anderes Lied singen. Zum Teil hatten sie zwei Stunden auf den Gleisen gestanden oder der gebuchte Zug ist gar nicht gefahren. Und da ein gebranntes Kind ja bekanntlich das Feuer scheut, wollen wir auf der Rückreise den legendären Bahnverspätungen ein Schnäppchen schlagen. Drei Stunden vor der eigentlichen Abfahrt nehmen wir den Bummelzug von Westerland nach Hamburg Altona. Der Zug ist zum Bersten voll. Ein älterer Herr, der ganze vier Plätze mit sich und seinem Gepäck belegt, lässt sich nicht dazu bewegen, mir einen Platz abzugeben. Hinter Niebüll wird es etwas leerer, sodass wir schließlich zusammensitzen können. Ein Stündchen später wird es an der Haltestelle Heide richtig voll. Eine große Gruppe von HSV-Fans steigt in den Zug, schwer bepackt mit Kühltaschen voller Bier und natürlich einem schrillenden Ghettoblaster. Na, Bravo! Jetzt sind auch die Gänge belegt und der Bierpegel steigt schnell an. Leider muss ich mal zur Toilette. Eine geschlagene Viertelstunde überlege ich mir, ob ich mir das antue und mich durch die Fanmeile quäle. Dann traue ich mich einfach.

Nach drei Stunden erreichen wir endlich den Zielbahnhof Hamburg Altona. Jetzt haben wir noch gute 2,5 Stunden Zeit, bevor es weitergeht. Auf der Übersichtstafel fallen mir zunächst diverse Zugausfälle auf. Noch scheint meine Verbindung aber nicht betroffen zu sein. Wir gönnen uns erstmal eine Kaffeezeit bevor es wieder auf die Gleise geht. Pünktlich um 18:44 Uhr sitze ich in meinem Zug. Ein Blick auf die DB-App sagt mir, dass ich alles richtig gemacht habe. Mein “eigentlicher” Zug, der Westerland um 15:20 Uhr verlassen hat, hat es nämlich nicht bis nach Hamburg Altona geschafft. Aber zu früh gefreut, denn mein jetziger Zug verlässt den Bahnhof bereits mit einer Verspätung von vier Minuten. Erstmal nicht schlimm, weil ich in Hannover eine Umsteigezeit von 17 Minuten habe. Aber, wie sollte es anders sein, die Bahn schafft es die vier Minuten Verspätung auf zwanzig Minuten auszubauen. Noch zeigt mir meine App an, dass auch mein Anschluss in Hannover Verspätung hat. Es besteht also noch Hoffnung. Die Durchsage im Zug verspricht mir, dass der Zug nach Leipzig auf uns wartet. Ganz drei Minuten lang bin ich happy, dann kommt eine zweite Durchsage. Der Zug nach Leipzig kann leider doch nicht warten, man möge doch bitte stattdessen den Bummelzug nach Braunschweig nehmen. Ich fasse es nicht. Ich bin seit gut acht Stunden unterwegs und soll jetzt noch die Bimmelbahn nehmen? Ich denke nur: Frauen am Rande des Nervenzusammenbruchs.

Wenn sich der Zugführer irrt
Völlig desillusioniert verlasse ich in Hannover den Zug. Zunächst überlege ich, ob ich mir noch etwas zu Essen hole. Dann folge ich aber einer Eingebung und begebe mich zum Gleis Nr. 10, wo mein Zug Richtung Leipzig abgefahren wäre. Und siehe da, der Zug hat sich ebenfalls noch mehr Verspätung eingefahren und soll in einer Minute einrollen. Ich kann es kaum fassen. Soll ich mich jetzt einfach freuen oder auf den Zugführer sauer sein, weil er mir beinahe die Tour versaut hätte. Egal, allein das Ergebnis zählt. Zwar treffe ich mit Verspätung an meinem Bahnhof ein, aber was sind schon zehn Minuten, wenn ich den Bummelzug links liegen lassen kann. Ende gut – alles gut.

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