Der Anpassungsfähigste wird prämiert

Christina/ Juni 14, 2020/ Philosophisches

Es gibt keine Zufälle, davon bin ich überzeugt. Es gibt nur Fingerzeige. Ob man diese dann wahrnimmt und nutzt steht auf einem anderen Blatt. Einen dieser Fingerzeige erhielt ich am 5.6.2020 in der 3SAT-Sendung “Kulturzeit” von Christian Marty. Marty ist ein Schweizer Journalist und “Ideenhistoriker”. Er hält im Interview ein Plädoyer für den Idioten und gegen den absoluten Konformismus. Da merke ich auf, besonders als er den Vater der Soziologie, Max Weber, ins Spiel bringt und konstatiert: “Der Anpassungsfähigste wird prämiert.” Was es damit auf sich hat und warum dieses Zitat Webers besonders gut in diese unsere Zeit passt, davon möchte ich heute berichten. Denn auch ich denke, dass wir in unserer Gesellschaft mehr Idioten vertragen könn(t)en.

Ein Hoch auf den Idioten
“Nun, wenn der Idiot jemand ist, der nicht mitläuft, dann finde ich das eine super Sache”, sagt Marty zu Beginn des Interviews. Unter einem Idioten versteht der Ideenhistoriker einen Menschen, der den Mut besitzt, anders zu sein als die anderen, was Marty für eine herausragende Qualität hält, um Sozialstrukten weiterzuentwickeln. In den westlichen Gesellschaften sehen sich viele als Individualisten, tatsächlich gibt es jedoch wenige, die sich als Idioten im von Marty definierten Sinne bezeichnen ließen. Woran liegt das? Auch hierfür hat Marty eine plausible Erklärung: “Es ist ein weit verbreitetes Phänomen, dass man sich anpasst.” Sowohl auf politischer, kultureller als auch ökonomischer Ebene sei nach Ansicht des Journalisten eine Linie zu vertreten. Wenn man das nicht tue, so Marty weiter, könne man das zwar machen, diese Entscheidung sei dann allerdings mit negativen Konsequenzen (für die Karriere) verbunden.

Narren in der Gegenwart
“In der Gesellschaft”, so zitiert Marty die beiden Soziologen Max Weber und Georg Simmel, “und zwar egal in welcher, wird der Anpassungsfähigste prämiert.” Christian Marty hat über Weber promoviert. “Max Weber. Ein Denker der Freiheit” heißt seine Doktorarbeit. Auch ich habe in meiner Dissertation mit den Gesellschaftstheorien von Weber, Simmel und Schütz gearbeitet. Das Gedankengut ist mir deshalb nicht fremd und hat mich in der Zeit meiner Promotion sehr beeindruckt. In meiner Disziplin, dem interkulturellen Lernen, geht es ebenso um eine Art der Anpassungsfähigkeit, nämlich die Anpassung an eine fremde Kultur. Dabei ist Anpassung nicht mit Assimilation zu verwechseln, das sind zwei ganz unterschiedliche Dinge. Und wie Marty in dem Kulturzeit-Interview weiterhin betont, ist es in jeder Gesellschaft notwendig, dass man sich auf elementare Dinge verständigt, sonst kann das Zuammenleben nicht funktionieren. Aber dort, wo es nicht der Anpassung bedarf, um miteinander leben zu können, da sollte Individualität sein. Das sind die Narren der Gegenwart, im positiven Sinne.

Kein Platz für Rassismus
Die Aktualität von Max Weber zeigt sich m.E. auch in der gegenwärtigen Debatte über Rassismus und Ausgrenzung in unseren Gesellschaften. Das Akzeptieren von Meinungen, Aussehen und Verhaltensweisen jenseits der gesellschaftlichen Norm scheint vielen Menschen Angst zu machen und wird deshalb abgelehnt. Und das gilt nicht nur für unterschiedliche Hautfarben oder religiöse Ansichten. Nein, selbst Karrierewege werden demjenigen versperrt, der der Unternehmenslinie und den Effizienzanforderungen nicht Folge leistet. Aber wie soll sich dann, ein System, eine Gesellschaft weiter entwickeln, wenn das Credo Konformismus lautet? Hier stellt sich mir die Frage, warum messen wir diese Werte dann oftmals mit unterschiedlichem Maß, wo wir doch in unserem gesellschaftlichen System nicht müde werden, unsere Individualität und unsere Freiheit zu betonen, nicht zuletzt besonders in Zeiten von Corona im Angesicht der Einschränkungen unserer Bürgerrechte?

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