J.D.Vance: Hillbilly-Elegie
Immer wieder hatte ich gehört, wie beeindruckend dieses Buch sei. Einmal wurde es hoch gelobt; ein anderes Mal verkündete der Rezensent, dass er beim Lesen der persönlichen Geschichte von J.D. Vance, der Hillbilly-Elegie, Tränen in den Augen gehabt hätte. So machte ich mich neugierig schlau, ob die örtliche Stadtbibliothek das Werk im Angebot hätte. Hatte sie. Offensichtlich hatten auch bereits andere von diesem „Must Read“ gehört, denn ich kam zunächst auf die Warteliste. Nun, pünktlich zu meinem Sommerurlaub bekam ich die Nachricht, dass das Medium eingetroffen sei und für mich zur Abholung bereit läge. Gleich im Wartebereich des Flughafens begann ich mit der Lektüre. Zugegeben, meine Erwartungshaltung hatte bereits eine gewisse Flughöhe erreicht und nun war ich gespannt, ob es J.D. gelingen würde, diese zu erfüllen. Was ich bis jetzt von diesem „Hillbilly“ und mittlerweile Vizepräsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika gesehen und gehört hatte, hatte mich wenig überzeugt. Besonders sein anmaßender und zum Fremdschämen einladender Auftritt beim Besuch des ukrainischen Präsidenten Selenskyj im Weißen Haus hatte mein Bild von J.D. Vance geprägt und das nicht zum Guten. Ich war also gespannt, was mir dieser „Hinterwäldler“ (engl: Hillbilly) zu erzählen hatte.
Kindheit in einer dysfunktionalen Familie
Sowohl die Kindheit als auch die Teenagerzeit von Vance waren geprägt von allem, was ein toxisches Familienleben auszeichnet: Gewalt, Drogen, Alkohol, Armut und ständig wechselnde Partner seiner Mutter. Eine Vaterfigur im eigentlich Sinne gibt es nicht. Seine Mutter trennt sich immer wieder von ihrem Lebensgefährten und betreibt ein stetiges „Bäumchen-wechsel-dich“-Spiel. Sein leiblicher Vater selbst zeigt kein großes Interesse an ihm, erst im Alter eines Jugendlichen bekommt er nochmals engeren Kontakt zu ihm. Wenn die Ekzesse seiner Mutter überhand nehmen, dann flüchtet er sich zu seinen Großeltern. Die sind letztendlich auch sein Anker im Leben. Probleme in der Schule und eine gewisse Gewaltbereitschaft bei J.D. sind Folgen dieser Adolesenz. Auch sein instabiles Umfeld, dass sich durch wenig Arbeitswilligkeit und Schuldzuschreibungen für die Misere an andere auszeichnet, trägt nicht dazu bei, dass Vance ein positives Lebensbild entwickelt. Trotzdem bekommt er die Kurve als er sich entscheidet nach der High School zu den Marines zu gehen, um den richtigen Schliff als Vorbereitung auf das Unileben zu erhalten. Nach vier Jahren „harter Schule“ geht es dann an die Hochschule, aber nicht irgendeine, es geht nach Yale, eine der sogenannten Ivy-League Universities in den Staaten. Protegiert von einer der Professorinnen geht es von nun an steil bergauf. Wohin dann der Kontakt mit dem berüchtigten US-Milliardär Peter Thiel geführt hat, wissen wir inzwischen alle.
Lehren aus der Kindheit
Im Klappentext des Buches heißt es, das Buch von J.D. Vance sei „mitreißend, bewegend, klug“. Ist das so? Ich sage nein, nicht mehr und nicht weniger als vergleichbare Berichte ähnlich unglücklicher Kindheiten, die es weltweit sicherlich zuhauf gegeben hat und immer noch gibt. Man gebe nur einmal den Begriff „dysfunktionale Familie“ z.B. bei Amazon im Suchfeld ein, da kommen unzählige Treffer. Aber ja, die wenigsten dieser Geschichten werden mit einer Vizepräsidentschaft oder ähnlich hohen Würden enden. Nun hatte J.D. Vance einfach Glück im Unglück. In all seinem kindlichen Elend hat er immer wieder unterstützende Hilfe erfahren – sei es von nahen Verwandten oder von Mentoren an der Uni oder eben einem Peter Thiel, der ihn wohl auch dazu motiviert hat, seine Lebensgeschichte in Buchform zu veröffentlichen. Sofort fragt man sich: Was hat Peter Thiel zu diesem Move motiviert?
Weiterhin heißt es im Klappentext, dass Vance „das wichtigste politische Buch des Jahres“ geschrieben hätte. Vielleicht, aber erklärt die Auseinandersetzung mit der Hillbilly-Mentalität wirklich das Wahlergebnis von Donald Trump, wie es behauptet wird? Nun, Fakt ist und das beschreibt Vance sehr ausführlich, dass die Hillbillies ein Schlag Mensch sind, die gerne anderen die Schuld an ihrem verpfuschten Leben geben, dann wohl vorzugsweise Politikern in Washington. Tatsächlich stellt der Autor aber auch fest, dass es besser wäre, wenn diese Bevölkerungsschicht ihr Schicksal in die eigenen Hände nehme.
Die Wahrheit kommt zum guten Schluss
So ziemlich am Ende des Buches, als ich es beinahe schon ein wenig genervt zur Seite legen will, wird`s doch noch spannend. Ab Seite 254 geht es los. Angefangen mit dem Eingeständnis, dass seine Karriere im Wesentlichen den richtigen Mentoren zur richtigen Zeit zu verdanken ist:“Ich lernte diese Dinge durch mein Netzwerk“ oder „Einer dieser Freunde lud mich zu einem wichtigen Gespräch und wurde ein wichtiger Mentor […].“ Dann erzählt Vance davon, wie prägend einige Erfahrungen aus der Kindheit für Entscheidungen sind, die im späteren Leben getroffen werden und diese Wahl oftmals unbewusst beeinflussen. Die Rede ist von sogenannten ACEs (adverse childhood experience), das sind traumatische Kindheitserlebnisse, deren Folgen weit bis in das Erwachsenenalter reichen (wenn nicht für immer). Vance zitiert einige psychologische Studien, in denen u.a. die Auswirkungen von permanentem Stress in der Kindheit beschrieben werden. Dieser führen dazu, dass das vegetative Nervensystem (Stichwort: Vagusnerv), sich in ständiger Alarmbereitschaft befindet und die Umgebung dahin abscannt, ob Gefahr droht: „Bei einem Kind, das aufwächst wie ich, ist der Teil des Gehirns, der Stress und Konflikt verarbeitet, dauerhaft aktiviert […].“
Ein paar Seiten weiter bringt es Vance auf den Punkt: „Aber der soziale Aufstieg ist niemals ein sauberer Schnitt, und die Welt, die ich hinter mir gelassen habe, holt mich doch immer wieder ein.“ Ob J.D. jetzt, wo er fast den Olymp der westlichen Welt erklommen hat (ihm wird nachgesagt, bei den nächsten Wahlen US-Präsident werden zu wollen), sich auch noch an seine Herkunft erinnert und daran, was die Politik für die Angehörigen seiner ehemaligen sozialen Schicht tun sollte? Wir werden es sehen, time will tell …
