Argumente statt Emotionen?

Christina/ Mai 25, 2011/ Philosophisches

In meinem letzten Beitrag “R2P-das Feigenblatt des Westens?” hatte ich auf einen Vortrag der Friedensinitiative Braunschweig hingewiesen. Dieser hat nun am vergangenen Dienstag (17.05.2011) an der TU Braunschweig unter Teilnahme von Bastian Loges, wissenschaftlicher Mitarbeiter der TU Braunschweig und Herrn Dr. Peter Strutynski, vom Kassler Friedensratschlag, stattgefunden.

Da es sich um ein sogenanntes Streitgespräch handeln sollte, indem unterschiedliche Positionen diskutiert werden sollte, hielt zunächst Herr Loges sein Plädoyer für den Einsatz der NATO in Libyen, gedeckt durch die R2P-Klausel. Herr Loges verwies zunächst darauf, dass Androhung und Anwendung von Gewalt grundsätzlich international verboten seien. Der Verzicht auf Angriffskriege ginge einher mit der Gründung der Vereinten Nationen (VN). Neben einem generellen Gewaltverbot, das als friedliches Mittel die Sanktionen offen ließe, gelte im Völkerrecht die Staatensouveränität. Was bedeutet, dass von “außen” niemand das Recht hat in die Belange eines Staates einzugreifen. “Legale Gewalt” gäbe es lediglich in Form von Blauhelmeinsätzen.

Der Friedensbegriff hätte sich parallel vom negativen zum positiven Frieden, sprich “gestalteten” Frieden entwickelt. 1993 wurde die Unteilbarkeit der Menschrechte beschlossen. Loges ließ eine mehr oder weniger ausführliche Abhandlung über die Entwicklung der Menschenrechtskonventionen, das Versagen der VN im Ruanda- und Jugoslawien-Konflikt folgen. Aber schließlich hätte man aus diesen Fehlern gelernt und sei so zu der “Responsibility to Protect” („positiver Frieden“!) gelangt, die es der VN erlaube trotz Staatensouveränität in bestimmten Fällen in Staatsangelegenheiten zum Wohle der Bevölkerung einzugreifen. Beschlossen wurde das Ganze in 2005.

Inhalt der Responsibility to Protect (kurz: R2P) sei nach Loges, dass der Staat die Bürger schützen muss. Wenn er das nicht kann, fällt der Schutz an die internationale Gemeinschaft. Es geht im Wesentlichen um diese vier Tatbestände: Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit, ethnische Säuberungen und Kriegsverbrechen.

Nachfolgend versuchte Loges die Anwendung des R2P in Libyen wie folgt herzuleiten und bezieht sich im Wesentlichen auf die beiden Resolutionen 1970 und 1973 aus dem Frühjahr 2011: Es ging los mit den Protesten in der arabischen Welt, die sich lauffeuerartig von Tunesien über Ägypten nach Libyen verbreiteten. Während in Tunesien und Ägypten von einer weitgehend friedlichen Revolution gesprochen werden kann, stellt sich der Fall in Libyen anders dar. Als Gaddafi mit einem gewaltsamen Einschritten und Kampf „bis zum letzten Blutstropfen“ in einer Fernsehansprache droht, sehen sich die VN auf den Plan gerufen. Eine Resolution des Sicherheitsrates (Schutzverantwortung) wird angemahnt, am 26.02.2011 wird zunächst die Resolution 1970 verabschiedet. Drei Wochen später habe man sich erneut getroffen und Resolution 1973 sei als Antwort auf das Verhalten des libyschen Staates entstanden. Mit der Res. 1973 wird die Schutzverantwortung auf die internationale Gemeinschaft übertragen. Bei der Abstimmung über die Resolution habe es zwei Enthaltungen bei den ständigen Mitgliedern des Sicherheitsrats gegeben (China und Russland) und drei bei den nicht ständigen Mitgliedern (Indien, Deutschland und Brasilien). Erklärend fügt Loges hinzu, dass Enthaltungen bei ständigen Mitgliedern als eine Zustimmung gewertet werden können, die nicht ausgesprochen werden und bei nicht ständigen Mitgliedern als ein „nein“, das ebenfalls nicht deutlich ausgesprochen wird.

Loges kommt nach seinen Ausführungen zu dem Fazit, dass der Fall eindeutig sei. Durch die Drohung Gaddafis (bis zum letzten Blutstropfen zu kämpfen – Anm. d. A.) hätte man intervenieren müssen.

Als zweiter Redner durfte Peter Strutyinski seine Gedanken aus friedenswissenschaftlicher Sicht vortragen. Er begann seinen Vortrag damit zu klären, um wen es eigentlich ginge. Libyen stehe in einer Reihe von massiven Protestbewegungen im arabischen Raum. Alle Regime hatten und haben beste Beziehungen zum „Westen“. Auch bei den Ausschreitungen in Tunesien und Ägypten habe es sich, so mahnt Strutynski an, nicht um gewaltfreie Proteste gehandelt: zwischen 800 – 1200 Toten seien alle in Ägypten zu beklagen. In Tunesien verhalt es sich ähnlich.

Zu den „guten“ Beziehungen zwischen dem arabischen Raum und dem Westen merkt er an, dass die europäische Union und der Westen insgesamt ein starkes Interesse an einer Stabilität der Region hätten. Deshalb würde mit Diktatoren zusammen gearbeitet werden. Die jeweilige Außenpolitik sei an Interessen orientiert, die Nicht-Einhaltung der Menschrecht nehme man in Kauf (Stichwort: Mittelmeerinitiative).

Libyen bzw. Gaddafi im Speziellen war seit 1969 so etwas wie der „böse Bube“. Zunächst übernahm er als Staatsoberhaupt die Macht über das Öl des Landes, wies die Amerikaner aus und stellte sich dann im Kalten Krieg auf die Seite des Ostblocks. 2002/3 kam dann die große Wende, der Schwenk Gaddafis vom Saulus zum Paulus. Der Atomwaffenforschung und dem Terrorismus schwor er ab, die Lockerbie-Opfer wurden mit rund 16 Milliarden Dollar entschädigt. Hier erlaubte sich Strutynski den Vergleich mit den Entschädigungszahlen, die praktisch noch von Seiten Amerikas gegenüber Vietnam offen stünden und die von Gaddafi gezahlte Summe bei Weitem zu überschreiten hätten.

Gaddafi, so Strutynski weiter, hätte mit der Ölrente die Bevölkerung ruhig gehalten, schließlich habe Libyen innerhalb der nordafrikanischen Staaten den höchsten Lebensstandard (HDI = Rang 47).

Die Reaktion des Westens auf den „arabischen Frühling“ kommentierte er mit den Worten, diese sei „auf skandalöse Art“ zögerlich gewesen. Lange sei man sich unsicher gewesen, wie zu reagieren sei. Solle man Mubarak einfach so fallen lassen? Es herrschte „einfaches“ Abwarten. Es wurde keine Partei ergriffen. Im Falle Libyens verhielt es sich dann anders. Von Anfang an war man hier gegen Gaddafi eingestellt und für die Sache der Rebellen.

Und noch einmal holte Strutynski aus: Nach 1989/90 waren die USA die einzige Weltmacht gewesen und profitierten damit von einer großen Übersichtlichkeit der Weltlage (im Gegensatz zu Habermas’ These von einer großen Unübersichtlichkeit). Die R2P stelle einen großen Widerspruch dar. Auf Anraten von Kofi Annan wurde sie 2000 ins Leben gerufen und 2001 (nur auf Englisch) veröffentlicht. Strutynski stellte fest, dass es sich dabei nicht um eine Völkerrechtsverordnung handele, weil die Voraussetzung dafür ein formaler Beschluss des Sicherheitsrates sei.

Lücken und Probleme der R2P sieht er in der selektiven Anwendung derselbigen. Wann läge ein „gerechter Grund“ (= gerechter Krieg) für die Anwendung vor? So wies er auch darauf hin, dass z.B. gegen ein ständiges Mitglied des Sicherheitsrates keine Resolution beschlossen werden könne, da keine Aussicht auf Erfolg bestünde, was eine wesentliche Voraussetzung dafür sei.

Eine Militärintervention gegen den Willen eines Staates sei ein äußerstes Mittel und sei weder legal noch völkerrechtskonform. Der Sicherheitsrat sei kein Organ, dem man vertrauen könne. „Es sei völkerrechtlich nicht vorgesehen, so schloss Strutynski seinen Vortrag, dass Staaten (NATO) sich auf eine Seite stellen und so tun, als würde diese Partei das Gute repräsentieren und die andere Seite nicht“.

Als Alternative zu den Kampfhandlungen, die er in Anlehnung an Wallerstein (http://www.ag-friedensforschung.de/regionen/Libyen/wallerstein.html) als Ablenkungsmanöver bezeichnete, plädierte Strutynski für eine Beendigung der Kämpfe, einen Waffenstillstand und das Zusammenbringen der Parteien an den Verhandlungstisch. Vermutlich einfach das, was man von Anfang an hätte machen sollen.

Für meinen Geschmack drehten sich beide Vorträge zu sehr um Fakten und Zahlen und zu wenig um das, was eigentlich im Vordergrund stehen sollte: die Menschenrechte und das, was die Betroffenen in der Region wirklich wollen. Diese Feststellung führt uns zum zweiten großen Defizit, das mittlerweile jeder am Konflikt Interessierte verspüren sollte: eine ausgewogene Berichterstattung, die multiperspektivisch ist und somit ein aussagekräftiges Bild der Situation zeichnet. Diese Hoffnung sehe ich bislang unbestätigt. Möglicherweise erhalten wir am kommenden Donnerstag, 26.05.2011 um 19:00 Uhr in der Alten Waage in Braunschweig erste Antworten, wenn Prof. Dr. Karam Khella „über den Aufstand der arabischen Völker für Freiheit“ sprechen wird.

Weiterführende Literatur:

  1. Friedensgutachten 2011
  2. BICC Jahresbericht 2011
  3. Islam und Globalisierung
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