Hochwasser und Hochgefühle: Ein feuchter Tag am Pisserbach
Zirka eine halbe Stunde nach dem Start unserer Wanderung wird mir eines wieder deutlich: Ich bin verwöhnt. Es wird immer schwieriger, neue Herausforderungen oder Highlights zu finden. Dabei kommt unverhofft bekanntlich recht oft. So auch bei unserer Wanderung am Pisserbach. Ja, der heißt wirklich so. Historisch betrachtet markiert das Flüsschen die Grenze zwischen dem ehemaligen Herzogtum Braunschweig und dem Königreich Hannover. Aber: Nach dem Dauerregen von Samstagabend bis Sonntagmorgen ist ein meterhohes, reißendes Gewässer entstanden, das uns vor manches Hindernis stellt.
Wie viele Highlights haben wir denn heute?
Die Strecke unserer heutigen Tour hat sich aus einer Verwechslung ergeben. In Bettmar bei Schellerten wäre heute ein Garten im Zuge der „Offenen Pforte“ zu besichtigen. Das Bettmar unseres Ausflugs jedoch liegt kurz hinter Vechelde; beide Bettmars liegen 23 km auseinander. Da wir heute aber recht spät starten, hätten wir beides ohnehin nicht an einem Tag geschafft. Also entscheiden wir uns für den Spaziergang. Gemäß des Streckenverlaufs sollten uns unterwegs 14 Highlights erwarten. Das klingt gut.
Wir starten in Bettmar und umrunden zunächst ein örtliches Waldstück, das uns zum Naturfreibad Vechelde-Bettmar bringt. Ziemlich schnell wird deutlich, dass die gestrigen, doch recht heftigen Regenfälle, den Waldboden ganz schön durchnässt haben. Bereits nach wenigen Minuten ist der untere Teil meiner Hose doch recht dreckig. Und das ist erst der Anfang!
Es fängt leicht an zu nieseln. Der Wind pustet die Wolken allerdings schnell weiter, sodass uns das kleine Intermezzo nichts anhaben kann. Da es heute recht kühl ist, steht nur ein einsames Rad vor dem Sommerbad. Gleich daneben liegt der Sportplatz. Hier geht es ruppiger zu, denn wer hier den Schiedsrichter beschimpft oder beleidigt fliegt vom Platz!
Die Sadomaso-Spiele der Einheimischen
Wie das immer so ist, wenn mein blondes Köpfchen nicht gefordert ist, fällt mir jede Menge Unsinn ein. Am Waldrand entdecken wir ein paar landwirtschaftliche Geräte. Der Verwendungszweck einer lattenrostartigen Vorrichtung, die sich offenbar zusammenklappen lässt, erschließt sich uns nicht sogleich. Nachdem ich aber im Hintergrund Äste bemerke, die wie zu einem Scheiterhaufen aufgestapelt sind, kommt meine Fantasie in Gang. Die Klappliege ist eine Falle – ganz klar. Wir möchten gar nicht wissen, was sich hier im Schutze der Dunkelheit abspielt. Okay, Kopfkino aus uns weiter.
Ein Dixie-Klo im Kornfeld
Eine gute Weile später verlassen wir den Wald und stehen vor einem Dixie-Klo. Die Zweckmäßigkeit leuchtet uns an dieser Stelle nicht ein. Wieder ein paar Schritte weiter kommen wir an einem Pferd uns drei Ponys vorbei. Logisch, dass ich es an vier Schnuckis nicht vorbeischaffe. Zunächst schauen die vier Burschen auch recht interessiert. Nachdem aber deutlich wird, dass ich nur quatsche und nichts zu futtern habe, erlahmt das Interesse doch recht schnell.
Tausche Trekking-Schuhe gegen Gummistiefel
Von nun an ist das vom Pisserbach (der heißt wirklich so!) geführte Hochwasser unser ständiger Begleiter. Unterhalb des Fleckens Schmedenstedt ist der Bach so angeschwollen, dass das Wasser über die Ufer getreten ist. Die ersten Wasserlachen auf Asphalt lassen sich noch gut bewältigen. Als es allerdings wieder durch die Wiesen gehen soll, nehmen wir den Umweg durch den Ort. Hier zeigt sich ein ganz ähnliches Bild. Rechter Hand ist ein Kartoffelfeld so dermaßen geflutet, dass der Bauer das Wasser vom Feld abpumpen muss, damit die Knollen nicht vergammeln.
Mich jedoch dürstet es nach etwas ganz Anderem. Ich brauche den nächsten Kick. Zurück im Wald geht es stramm auf die Muttereiche zu, dem Wappen von Schmedenstedt. Klar, ein solch geschichtsträchtiger Ort ist natürlich mit einer Informationstafel ausgestattet. Und da ist er niedergeschrieben, der Schüttelreim des Grauens. Er soll wohl die einstiege Muttereiche – Stolz der Ortschaft und sogar Teil des Ortswappens – in Szene setzen. So ist diese doch einem Sturm zum Opfer gefallen. Klar, mit einem Durchmessen von fünfeinhalb Meter, 1000 Jahre auf dem Buckel zählte das gute Stück zu den ältesten Bäumen des Landkreises.
Neben dem Denkmal der gefallenen Eiche steht ein Amboss, Symbol für eine Schmiede und Zeichen für den Ortsnamen als Schmiedestätte. Der Legende nach arbeitete im Schmedenstedter Holz ein Schmied, um dessen Gehöft eine Siedlung entstand. Später lernen wir noch, dass der Ort Mittelpunkt eines Hildesheimer Gerichtsbannes war.
Bridge over troubled water
Nach so viel Historie geht es weiter durch den Wald. Als ich nach dem nächsten Highlight frage, lautet die Antwort: der Pisserbach. Nochmals? Ich hoffe, so lasse ich meinen Mitstreiter wissen, dass das Wasser hier nicht so hochsteht. Laut Tourenbeschreibung sollen wir den Bach überqueren. Ich habe da so meine Bedenken. Und richtig, als wir die Stelle erreichen, an der wir das Gewässer überqueren sollen, steht das Wasser so hoch, dass ich mir überhaupt nicht vorstellen kann, dass man hier jemals von einem Ufer zum anderen gehen konnte. Aber, was weiß ich schon? Wir jedenfalls schauen etwas dumm aus der Wäsche. Plan B? Wir folgen dem Bachverlauf in der Hoffnung, dass wir irgendwo eine schmale Stelle zum Passieren finden. Plötzlich sehen wir rechter Hand zwei Baumstämme über dem Bach liegen. Soll das etwa unsere Rettung sein? Wir sind nicht so ganz überzeugt und gehen noch ein Stück weiter. Und tatsächlich werden wir fündig. An einer Stelle führt eine kleine Holzbrücke über das Wasser.
So dann stehen wir wieder auf der Wiese mit dem Dixie-Klo. Wir müssen nochmals über den Pisser. Wieder finden wir einen Übergang. Ah, Glück gehabt. Von da ab ist der Rückweg nach Bettmar ein Kinderspiel. Jetzt habe ich doch noch mein Abenteuer gefunden. Es gibt doch nichts Schöneres, als wenn es ein wenig in der Magenkuhle kribbelt und nicht absehbar ist, ob das alles gut ausgeht😊
Das Halbgericht an der Pisser
Wir sind schon fast wieder am Auto, als es für uns nochmals kulturell hochspannend wird. Wir entdecken die Original-Wasserpumpe aus der alten Bettmarer Gemeindebäckerei. Bei diesem Exemplar handelt es sich zwar um eine Replik, weil das Original stark beschädigt ist. Das tut der Sache aber keinen Abbruch. An dieser Stelle soll symbolisiert werden, wie wichtig gutes Trinkwasser bereits seinerzeit für Mensch und Tier gewesen ist. Seinerzeit reichten ausgehölte Eichenstämme von dem Pumpenkörper bis zum Brunnenwasser. Eine Infotafel lässt uns zudem wissen, das wir gerade aus dem Grundstück des ehemaligen Halbgericht an der Pisser stehen. Ganze 600 Jahre, vom Ende des 12. bis zum 19. Jahrhundert wurden hier Urteile gefällt. Der sogenannte Landvogt erledigte damals die Verwaltungs- und Gerichtsaufgaben für seinen Herrn. Als letzte bedeutende Amtshandlung wurde vor Ort am 18. Juli 1825 die „Grenzversteinigung“ beschlossen und besiegelt.