Corona-Tagebuch: die Welt steht still
Gestern drehe ich eine Runde mit dem MTB. Mein MP3-Player spielt plötzlich “Die Welt steht still” von Jan Delay. Wenn das mal nicht die Hymne für die aktuelle Situation wird. Nach den Eindrücken, die ich heute auf einer Stippvisite in Hannover gesammelt habe und den noch bevorstehenden gesundheitlichen und wirtschaftlichen Herausforderungen für die Welt bekommt der Satz: “Denn du kannst dich nicht immer verlassen auf morgen” eine ganz neue Bedeutung.
Vertreibung aus dem Paradies
Die erste Woche des Kontakverbots geht langsam zu Ende und die Anzeichen wirtschaftlicher und sozialer Folgen werden langsam sichtbar. Bisher habe ich mich weitestgehend in meinem “Kiez” aufgehalten, habe nach der Arbeit das herrliche Wetter genutzt und bin im nahegelegenen Park Joggen gegangen. Ich habe mich wohl im “Tal der Glückseligen” bewegt, wie ich heute feststellen durfte.
Ich habe einen Termin in Hannover und nehme den Zug. Der Braunschweiger Bahnhof ist an diesem Freitagvormittag gegen 10 Uhr leerer als einem Sonntagmorgen mit schlectem Wetter. Auch der Zug ist leer, die Menschen sitzen weit auseinander. Einen Schaffner sehe ich an diesem Tag nicht. Muss ich mich ärgern, dass ich ein Ticket gelöst habe, schießt es mir durch den Kopf? Doofer Gedanke, ist aber so. Kurz nach 11 Uhr erreichen wir Hannover. Jeder, der schon einmal an einem Freitag am Hannoveraner Bahnhof war, kennt das Gewusel. Normalerweise fällt es schwer aus dem Zug auszusteigen, weil der Bahnsteig gedrängelt voll ist, es ist anstrengend, überhaupt die Treppe zur Ankunftshalle zu erreichen. Heute ist alles anders. Er herrscht gähnende Leere.
Als ich den Bahnhof verlasse und in Richtung Kröpcke gehe mache ich rückblickend ein Foto mit Seltenheitswert: Der Bahnhofsplatz von Hannover ist völlig verwaist. Auch in der Fußgängerzone ist kaum jemand unterwegs, wozu auch, es ist ja eh (fast) alles geschlossen. Galerie Kaufhof wirbt zwar noch mit einer offenen Lebensmittelabteilung, das scheint aber niemanden so richtig zu interessieren.
Einkaufswagen in der Fußgängerzone
Jeder dürfte mittlerweile das Gebot kennen, beim Einkaufen im Supermarkt einen Einkaufswagen nutzen zu müssen. Volle Einkaufswagen sehe ich allerdings auch außerhalb von Supermärkten. Nein, es sind keine Hamsterkäufer, die ihre Beute durch die Stadt nach Hause schieben. Es sind Obdachlose und Bettler, die ihr Hab und Gut durch die leeren Straßen schieben. Ich sehe einen älteren Mann mit völlig kaputten und abgetretenen Hausschuhen. Er schiebt einen Einkaufswagen vor sich her an dem verschiedene Stoffbeutel hängen. Sie tragen die Aufschrift von Städten wie “Hannover” oder “Bremen”. Mein Herz zieht sich bei dem Anblick zusammen. Ich sehe viele Bettler auf dem Boden hocken, teilweise mit Schildern wie “Ich habe Hunger” in der Hand, teilweise schlafen sie noch in den Eingängen der geschlossenen Kaufhäuser.
Mich bedrückt diese Situation sehr, auch, weil ich mich ohnmächtig und hilflos fühle. Es nützt nichts, jedem dieser Menschen zwei Euro in die Hand zu drücken, damit sie und ich mich besser fühlen. Hier geht es um mehr und das ist erst der Anfang.
Es stinkt nach Urin
Als ich von meinem Termin zum Bahnhof zurückgehe empfinde ich die Situation als noch beängstigender. Inzwischen hat sich der Vorplatz etwas gefüllt. Es sind fast ausschließlich Ausländer unterwegs. Das schreibe ich hier nicht, weil ich etwas gegen Ausländer habe. Nein, es geht mir um etwas anderes. Auf mich macht es den Eindruck, als ob alle Bürger, die es sich leisten können, entweder zuhause bleiben oder mit ihren Autos umherfahren. Nur noch die Menschen, die auf die Hilfe von außen angewiesen sind oder vermutlich keine Unterkunft haben, sind noch auf der Straße.
Als ich in den Zug steige riecht es penetrant nach Urin. Ich muss meinen ursprünglichen Platz verlassen und einen Platz am Ende des Zugs suchen, was gar nicht so einfach ist, da natürlich jeder – verständlicherweise – für sich alleine sitzen möchte. Instinktiv ziehe ich meinen Schal vor Mund und Nase. Ich fühle mich nicht gut, will nur noch zurück in meinen Kiez. Als wir in Peine halten, stehen Polizei und das Ordnungsamt am Bahnhof, um das Einhalten der Bewegungsbeschränkungen zu kontrollieren. Ich glaube, es ist das erste Mal für mich, dass ich bewusst ein Auto vom Ordnungsamt sehe.
Orangen als Mangelware?
Ich bin froh als wir den Braunschweiger Bahnhof erreichen. Ich schwinge mich auf mein Fahrrad. Auf dem Weg zurück halte ich noch kurz am Supermarkt. Es ist früher Nachmittag, scheint eine günstige Zeit für den Einkauf zu sein. Mir fehlen noch Orangen, leider habe ich seit zwei Tagen keine mehr bekommen. Ich habe Glück und kann das letzte (!) Netz kaufen. Sind jetzt Orangen auch schon Mangelware bzw. Opfer der Hamsterkäufer? Ich wundere mich darüber, dass es in Umfragen immer wieder heißt, die Leute würden keine Hamsterkäufe tätigen bzw. davon überzeugt sein, dass die Lebensmittelversorgung auch künftig gesichert sei. Warum lügen die Menschen? Soziale Erwünschtheit? Wollen sie sich selber das Gefühl vermitteln, nein, ich gehöre nicht zu den Hamstern, nur um dann noch schnell im benachbarten Supermarkt verstohlen die letzte Packung Toilettenpapier, Mehl, Zucker, Nudeln oder neuerdings Hefe zu kaufen?
Um etwas Stress abzubauen drehe ich am Nachmittag noch eine Runde mit dem MTB. Leider sind die Wege mit Spaziergängern (ist verständlich) doch ziemlich verstopft, sodass es mehr ein Hindernisfahren wird. Trotzdem, ich bin dankbar. Ich weiß, dass ich immer noch priveligiert bin. Ich kann immer noch rausgehen, ich kann immer noch das schöne Wetter genießen und ich bin noch gesund. Das ist meine persönliche Therapie zur Zeit, draußen sein und auf schöne Dinge achten, wie Enten und Gänse, die erwachende Natur und die Dankbarkeit dafür, dass alle meine Freunde auch gesund und wohlauf sind – auch wenn ich diese sehr vermisse.
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