Corona-Tagebuch: Millenium!

Christina/ März 15, 2021/ Alltagsgeschichten

Wer hätte das gedacht? Ein Braunschweiger Fußballverein geht mit gutem Beispiel voran und dreht die Gender Gap (Geschlechterlücke) einfach um. Hier heißt es schlichtweg “Ladies first”. Als Frau wird man in diesem Verein noch regelrecht umworben und geschätzt, sodass die saisonale Dauerkarte besonders günstig ist. Ganze 20 Euro zahle ich als Frau im Vergleich zu den Männern weniger, um live dabei zu sein. Das nenne ich einen feinen Zug. Klar, das steht ein Konzept dahinter. Weibliche Fans sollen in den Verein gelockt werden. Aber, der Zweck heiligt bekanntlich die Mittel und wenn es sich hier davon profitieren lässt – umso besser. Darum, Ladies, trefft euch bei Rot-Weiß, auch ohne Pommes.

Vielleicht der schönste Blick auf Braunschweig
Von Rot-Weiß geht es auf die Mülldeponie. Der Milleniumberg will erklommen werden. Von oben haben wir einen fantastischen Blick über Braunschweig. Noch ist mir die wechselvolle Geschichte dieses Hügels gänzlich unbekannt. Das ändert sich allerdings, sobald ich wieder Zuhause bin. Da komme ich im Internet einem Drama in drei Akten auf die Spur.

Erster Akt:
1993: Die frühere Deponie hat ein Problem, das beseitigt werden soll: es tritt Sickerwasser aus. Dieses verunreinigt nicht nur das Oberflächenwasser, sondern ist auch für Flora und Fauna schädlich und nicht zuletzt für die Gesundheit der Bürger.

1994: Ein geschäftstüchtiger Braunschweiger, Werner Lindemann sein Name, kommt auf die Idee, an der Stelle des Milleniumberges am Madamenweg mit seinem Architekten Fritz Seydel ein Amphitheater zu bauen. Mit diesem Vorhaben hat der Ingenieur nichts Geringeres vor, als ein Veranstaltungszentrum der besonderen Art zu schaffen und somit das Kulturangebot der Stadt zu bereichern. Allein bei dem Gedanken an einen solchen Open-Air-Veranstaltungsort, das gebe ich zu, wähnt man sich bereits auf den Stufen eines auf antik-gemachten Rundbaus mitten in einer lauen Sommernacht, bestenfalls den Klängen eines klassischen Konzerts lauschend oder einer Aufführung des Staatstheaters.

Oops, da kommt ein störender Gedanke auf. Ist die Idee, ein solches Prestigeprojekt auf einer ehemaligen Müllkippe und stillgelegten Tonkuhle zu erreichten, nicht zumindest als „speziell“ zu bezeichnen?

1995: Ein Jahr später erteilt die Stadt Braunschweig Herrn Lindemann die Baugenehmigung, allerdings unter der Auflage, dass die mit Haus- und Sondermüll belastete Tongrube mit einer Folie abgedichtet wird.

Soweit die Theorie. In der Praxis wächst der Milleniumberg immer weiter, bis er die stolze Höhe von 110 Metern ü.N.N. erreicht und damit auch gleich zum höchsten topographischen Punkt Braunschweigs avanciert (Superlative gehen immer). Ob Herr Lindemann zwischenzeitlich den Auflagen der Stadt Braunschweig nachgekommen ist, wird zumindest bestritten und ist ab 2008 Gegenstand eines Ermittlungsverfahrens gegen den Besitzer. Fun-Fact am Rande: Später stellte man fest, dass 1999 nicht nur radioaktiver Sanierungsbauschutt aus dem Buchler-Gelände auf dem Berg gelandet war, sondern ab 2005 auch der Aushub aus dem Schlosspark dort verscharrt wurde.

In der Zwischenzeit jedoch wird das Projekt von der Stadt Braunschweig, vollmundig u.a. in einer Westpark-Broschüre, angepriesen. Später, genauer im Frühjahr 2008, distanziert man sich jedoch von dem einstigen Jubel und löscht die betreffende Passage einfach aus dem Faltblatt.

Zweiter Akt:
Und hier wendet sich das Blatt: Im April 2008 verspricht die Stadtverwaltung die „lückenlose Aufklärung“ des Milleniumberg-Skandals. Allein auf einen Rückbau der Halde kann man sich im Planungsausschuss nicht einigen, es bleibt alles beim Alten. Es kommt die häßliche Rede von Parteispenden und möglicher Korruption seitens Lindemann auf. Und die Namensliste der vermeintlich involvierten politischen Größen ist lang.

Zu einer erstaunlichen Wendung in der Causa Milleniumberg kommt es im Mai 2008, hier mag wohl einigen Politikern der Hintern heiß geworden zu sein. Die in 1995 erteilte Baugenehmigung wird plötzlich als „rechtsfehlerhaft“ bezeichnet.

Die Stadt stellt das Verfahren wegen Ordnungswidrigkeit im Frühsommer 2008 wieder ein und übergibt den Fall an die Staatsanwaltschaft. Die Frage ist nun nicht mehr, ob es sich um Verstoß gegen das Baurecht sondern um eine Umweltstraftat handelt.

Spätestens an dieser Stelle, so könnte der geneigte Leser meinen, kommt Herr Lindemann gehörig ins Schwitzen. Nun, der gut vernetzte Geschäftsmann scheint auch hier über die richtigen „Schutzengel“ zu verfügen, um ungeschoren aus der Sache zu kommen.

Zweiter Fun-Fact am Rande: Die Stadt Braunschweig wollte das Kulturzentrum „Millenium“ für seine Bewerbung als Kulturhauptstadt 2010 nutzen. Allerdings kam dann in 2005 irgendwie der schriftliche Baustopp von der städtischen Bauabteilung dazwischen.

Dritter und letzter Akt:
In 2009 findet das Schmierentheater sein Ende: die Staatsanwaltschaft stellt das Verfahren ein. Hier entsteht die Frage: mit welcher Begründung? Ich bin fast dazu verleitet zu antworten: mit den üblichen Mitteln, Verjährung und „im Zweifel für den Angeklagten“.

In 2012 gibt es dann noch einmal einen Anlauf, aus der Milleniumhalle ein Freizeit- und Bildungszentrum (FBZ) zu machen. An dieser Stelle muss der damalige Bürgermeister dann aber doch Kleinbeigeben.

Unklar bleibt, was nun aus dem geplanten Projekt werden soll. Wenn ich einen Blick auf den heutigen Zustand des Berges werfe so würde ich sagen: Nichts. Naja, das stimmt nicht ganz. Man könnte sagen, dass die Sicht vom Milleniumberg vielleicht die schönste über die Stadt Braunschweig ist.

Als ich gestern zum ersten Mal auf dem Berg stehe und die herrliche Aussicht über Braunschweig genieße, kommt mir bei dem Begriff „Millenium“ spontan der gleichnamige Song von Robbie Williams ins Gedächtnis:

„We’ve got stars directing our fate
And we’re praying it’s not too late
Millennium“

„Some say that we are players
Some say that we are pawns
But we’ve been making money
Since the day that we were born“

Ein Schelm, der Böses dabei denkt? Da lob ich mir den VfB Rot-Weiß mit seiner vorbildlichen Frauenpolitik.

Übrigens: Die Chronik des Falls ist im Wesentlichen einer Diskussion auf der Seite des Deutschen Architekturforums entnommen.

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